Folge 1: Der letzte Pfiff

DER LETZTE PFIFF
Geschrieben von Bert Plomp

Das Spiel ist erst vorbei, wenn der letzte Pfiff ertönt ist. Das war das Credo meines Vaters. Die gleichen Worte sprach ich zu ihm auf seinem Sterbebett. Um ihn in letzter Minute noch zu ermutigen. Es war leider vergeblich. Kurz danach fiel er ins Koma. Ein paar Tage später starb er an den Folgen von Schilddrüsenkrebs. Er starb im Sommer 1975 und war erst 59 Jahre alt.

An jenem Juni-Nachmittag besuchte ich ihn im Diakonissenkrankenhaus in Utrecht. Er lag dort seit ein paar Wochen in einem separaten Zimmer. Er war, wie es hieß, “aufgegeben”. Ich bemerkte an seinem mühsamen Atmen, dass sein Ende nahte. Um zu überprüfen, ob er noch atmete, legte ich meine Hand auf seinen Bauch. Mit immer längeren Pausen und immer mehr Mühe schnappte er nach Luft. Und dann war es plötzlich vorbei.

Die Behandlung seiner Krankheit muss die Hölle für ihn gewesen sein. Anfang der siebziger Jahre konnte man noch keine präzise Strahlentherapie anwenden, um einen Tumor zu zerstören. Ich sah regelmäßig, dass seine Brust und sein Hals komplett rot waren, “verbrannt”. Verbrannt durch die umfangreiche, schwere Bestrahlung. An verschiedenen Stellen war seine Haut sogar völlig wund. Überall entstanden immer mehr Wunden, aus denen Flüssigkeit tropfte. Am 26. Januar, kurz vor seinem Tod, feierte Papa seinen letzten Geburtstag. Sein Gesicht war mittlerweile durch die Krankheit komplett orange gefärbt. Trotz all des Elends hatte er kein Problem damit, dass diese Verfärbung einige Gäste dazu inspirierte, Witze zu machen. Ein Kommentar, dass er, als königstreuer Mensch, das “Oranje oben” nicht so ernst nehmen sollte, störte ihn nicht. Er konnte darüber lachen. Ohne über Schmerzen zu klagen und mit unvermindertem Optimismus hat er so mehr als ein Jahr für sein Leben gekämpft.

Mein Vater litt seit Jahren an Übergewicht. Um ein paar Kilos zu verlieren, hatte er kurz bevor sich die Krankheit manifestierte, an einer experimentellen Methode zur Gewichtsabnahme teilgenommen. Dabei wurden ihm regelmäßig Hormone verabreicht. Es ist durchaus möglich, dass diese Behandlung die Krankheit ausgelöst hat. Wie dem auch sei, es war ein sehr trauriges Schicksal für jemanden, der nie geraucht hat und keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen hat, so jung zu sterben.

Insgesamt hatte mein Vater kein schönes Leben. Er wurde während des Ersten Weltkriegs geboren und erlebte als junger Mann den gesamten Zweiten Weltkrieg. Außerdem starb seine Mutter früh. Obwohl ich in meiner Jugend oft von ihm eine Tracht Prügel bekommen habe, bleibt er in meiner Erinnerung als ein gütiger Mensch bestehen. Denn er mochte es überhaupt nicht, zu schlagen. Meist geschah dies trotzdem, weil ich mehr als nur Unfug getrieben hatte. Aber ich bekam erst eins auf den Deckel, wenn meine Mutter ihn dazu angestiftet hatte.

Am Abend nach der Beerdigung ereignete sich zu Hause ein seltsamer Vorfall. An diesem Abend war der Bruder meines Vaters noch einmal zu Besuch gekommen. Onkel Kobus war sehr aufgebracht und aus einem besonderen Grund wieder aufgetaucht. Mein Vater hatte ihm auf seinem Sterbebett seine Sorgen mitgeteilt. Sorgen um meine jüngere Schwester. Über den Umgang, den sie mit einem bestimmten jungen Mann hatte. Mein Vater sah eine gute Zukunft für meine Schwester voraus. Aber nicht mit diesem jungen Mann. Mein Onkel sollte diesen Kerl von meiner Schwester fernhalten. So hatte mein Onkel den Wunsch seines Bruders aufgefasst und deshalb war er da. Ohne zu wissen, was über ihm schwebte, tauchte der betreffende Verehrer an diesem Abend im Viertel auf. Mein Onkel machte sich daraufhin sofort auf, um nach draußen zu gehen und den unerwünschten Freier zu vertreiben. Um zu zeigen, dass er es ernst meinte, flog er mit einem glänzenden Messer in der Hand zur Haustür hinaus. Obwohl die Waffe nicht größer war als ein belangloses Kartoffelschälmesser, fand ein anwesender Freund des Hauses es doch klüger, meinem Onkel den freien Weg nach draußen zu versperren. Bevor jemand reagieren konnte, rollten beide Männer, ringend, über die straff gelegten Teppichfliesen im Wohnzimmer. Das Ergebnis war, dass mein Onkel, ein gefürchteter Indien-Veteran, ohne seinen winzigen Kukri abzog. Der unerwünschte Verehrer blieb somit verschont und konnte die Jagd nach meiner Schwester ungebremst fortsetzen. Nach diesem Freistilkampf war ich den Rest des Abends damit beschäftigt, die Teppichfliesen wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Zum Glück hatte ich in der Vergangenheit genug Erfahrung damit gesammelt.

Es ist sehr schade, dass mein Vater so früh gestorben ist. Dass er mein Haus in Irland nicht genießen konnte. Er war nämlich sehr angetan von atlantischen Atmosphären. Es wäre schön gewesen, wenn ich mehr Zeit mit ihm hätte verbringen können. Mehr Zeit, um mit ihm zu plaudern. Um zu hören, wie seine Jugend war und wie er die Kriegszeit erlebt hatte. Besonders als ich selbst erwachsen war. Als Berufssoldat war mein Vater eine Weile in Schottland stationiert. Aus diesen Tagen besaß er ein komplettes, militärisches, schottisches Kostüm. Kilt inklusive. Außerdem hatte er eine ganze Sammlung von Dudelsackmusik zusammengetragen. Ich konnte diese Musik damals nicht ertragen. Letztendlich hat der besondere Klang der “Pipes” dazu beigetragen, dass ich seit Jahren gerne in Irland lebe und dieses Blasinstrument gerne höre.

WIRD FORTGESETZT

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